Predigt des Monats

 

Predigt zu Mt 9, 9-13 von Pfarrerin Anna Kampl am 13.02.2022

 

Die Liebe Gottes, die Gnade Jesu Christi und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen!

Liebe Gemeinde!

„Ich fühle mich getragen durch diese Zeit. Ich mag unsere Gemeinschaft. Es hat mir auch viel in der Coronazeit geholfen, ich bin nicht allein.“ Sagt die 92-jährige Liesi, die jeden Sonntag in die Kirche kommt.

„Die Gemeinde ist wie eine große Familie.“ Sagt Barakat aus Afghanistan, der sich gerade auf seine Matura vorbereitet.

Frau Renate wohnt in einem teilbetreuten Wohnen der Lebenshilfe hier in Simmering, auch sie ist eine treue Seele, die den Besuch der Glaubenskirche als einen fixen Punkt ihres Sonntagsprogrammes hat.

Die Erfahrung „angenommen und akzeptiert zu werden so wie sie sind“ machen bei uns viele Menschen.

Ich, als eine Nichtösterreicherin mit meinem Böhmakeln gehöre dazu.

In ihrem Profil wird die Gemeinde folgendermaßen beschrieben:

„Offen, vorstädtisch, vielfältig- und ansonsten eine ganz normale Gemeinde.“

Die Glaubenskirche liegt mitten in einem Wohngebiet. Umgeben von neuen hohen Wohnbauten des Braunhuberviertels. Fünf Gehminuten von der U3 Endstation Simmering entfernt. Mittendrin in der Großstadt.

Vielfältig und interkulturell.

Seit 2003 ist der Ghana Chor bei uns zuhause. 2005 wurde die Ghanaische evangelische Pfarrgemeinde, die hier jeden Sonntag Gottesdienst feiert, gegründet.

Offen für Neues. Modernder Bau mit einem Betonboden und einer Glasfront hinter dem Altar.

Die Architektur passt wunderbar zum Profil der Gemeinde.

Für die Evangelische Kirche A.B. in Österreich ist die Glaubenskirche eine Besondere: Sie ist die 100. Kirche, die nach 1945 gebaut wurde – nach einem Entwurf des Wiener Stadtarchitekten Roland Rainer, der z.B. auch die Stadthalle oder das ORF Zentrum entworfen hat.

Mit dem Entwurf unserer Kirche war er seiner Zeit voraus.

Der offene und auf das Wesentliche reduzierte Kirchenraum tut etwas mit den Menschen, die zu uns kommen. Er motiviert alle, die ihn betreten, dazu ihre Spiritualität offen zu gestalten.

Er wirkt einladend.

Bine kommt jeden Sonntag mit dem Zug nach Wien Simmering angereist: „Es ist nicht einfach einen Ort zu finden, an dem ich so sein darf, wie ich bin“. Erzählt sie mit strahlenden Augen.

Frau Koza wohnt in den Hausgemeinschaften des Diakoniewerks im 11. Wienerbezirk. Allein schafft sie es nicht in die Kirche zu fahren, sie freut sich, wenn sie in Begleitung von zwei aus dem Iran stammenden Studenten mit der U3 einreisen kann.

„Ich freue mich, dass wir so eine bunte Mischung sind. Junge Menschen, die ursprünglich von wo anders sind, in der Kirche zu treffen, das ist doch schön!“ sagt Eva, die zum Seniorenkreis gehört.

Bei uns kommen komplett unterschiedliche Menschen, die verschiedene Sprachen sprechen, zusammen.

Junge und Alte, Menschen aus verschiedenen Ländern, Leute mit unterschiedlichen Bildungshintergründen, mit mehr oder weniger Geld, in unterschiedlichen sozialen Lagen versuchen, in aller ihrer Unterschiedlichkeit gemeinsam Gemeinde zu sein.

Die Vierzehnjährige Julia ergänzt: „Ich finde es echt cool, wenn sich bei uns Konfis treffen, gerade in Zeiten von Corona war es für mich wichtig.“

Diese gelebte Vielfalt ist in der allgemeinen Gesellschaft nicht mehr selbstverständlich.

Da an diesem Ort wird nicht viel über Inklusion geredet, sie wird einfach gelebt.

Offenheit und Akzeptanz anderen Menschen gegenüber sind dabei keine leeren Worthülsen, sondern Alltagsrealität.

Es berührt mich immer wieder, wenn Menschen zu mir kommen und erzählen, warum sie gerne da sind.

Doch auch bei uns, nach knapp zwei Jahren Pandemie, kommen Müdigkeitserscheinungen und Unsicherheit.

Das Leben der Gemeinde ist anders geworden als vor zwei Jahren.

Es gibt weniger Möglichkeiten mit anderen Menschen ins Gespräch zu kommen.

Und wenn wir miteinander reden, dann meistens mit Menschen, die der gleichen Meinung sind.

Das Thema Corona ist omnipräsent. Und wird leider auch ausgenutzt, um Menschen auseinander zu bringen.

 

Liebe Gemeinde,

wenn ich ehrlich bin, macht mir es große Sorgen.

Die Fronten in der Gesellschaft verhärten sich und mittlerweile sind wir alle davon betroffen.

Dadurch, dass wir in Verbindung und Interaktion mit vielen verschiedenen Menschen und Institutionen sind, sehe ich es als unsere Aufgabe, sich mit diesem Thema auseinandersetzen.

Was können wir als Kirche, als Pfarrgemeinde, tun, damit wir uns als Gemeinschaft im Kleinem und als Gesellschaft im Großem nicht weiter voneinander trennen lassen?

Ein Blick in das Evangelium nach Matthäus hilft zu einem Perspektivenwechsel.

Wir hören die Worte aus dem 9. Kapitel:

9 Und als Jesus von dort wegging, sah er einen Menschen am Zoll sitzen, der hieß Matthäus; und er sprach zu ihm: Folge mir! Und er stand auf und folgte ihm. 10 Und es begab sich, als er zu Tisch saß im Hause, siehe, da kamen viele Zöllner und Sünder und saßen zu Tisch mit Jesus und seinen Jüngern. 11 Als das die Pharisäer sahen, sprachen sie zu seinen Jüngern: Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern?

12 Als das Jesus hörte, sprach er: Nicht die Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken. 13 Geht aber hin und lernt, was das heißt (Hos 6,6): »Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer.« Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder.

Jesus ist unterwegs.

In Bewegung. In Begegnung.

Von einem konkreten Menschen zu einem anderen konkreten Menschen.

Gerade hat er geheilt und gleich geht er weiter.

Er geht nicht nur auf einen konkreten Menschen zu, er sieht ihn an.

Er sieht den Zöllner von Angesicht zu Angesicht.

Dieser Zöllner wird im Predigttext Matthäus genannt. Offensichtlich ist dem Autor des Evangeliums der Name wichtig. Matthäus gehört später zu den 12 engsten Freunden Jesu.

Der engste Kreis der 12 Jünger steht symbolisch in Analogie zu den 12 Stämmen Israels.

Da wird einer von Jesus gesehen und hereingeholt, der als Zöllner die Ausbeutung des eigenen Volks und die Zusammenarbeit mit den Römern verkörpert.

Einer, der aus dem alten Bund ausgeschlossen war, wird zum Gründungsmitglied des neuen Bundes.

Ein Skandal. Eine pure Provokation.

Einer, von dem alle glauben, dass Gott mit ihm nichts zu tun haben will, wird zum Nachfolger des Gottessohnes.

Er wählt den Weg der Eskalation statt Deeskalation.

Dadurch, dass Jesus sich mit Zöllnern und Sündern umgibt, provoziert er.

Er lässt sich bewusst auf einen gesellschaftlichen Konflikt ein.

Ein Konflikt zwischen den Gerechten und den Ungerechten.

Den Guten und den Schlechten.

Das Wertesystem einer Gesellschaft unterscheidet zwischen den Guten und den Schlechten, aber berücksichtigt nicht das „Können“ und „nicht Können.“

Durch die Annahme des Zöllners rechtfertigt Jesus nicht die Korruption, sondern durchbricht den Teufelskreis der Diskriminierung im Wertesystem der Gerechten.

Er wendet sich den Diskriminierten zu, einseitig, parteiergreifend.

Nicht die Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken.

Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder.

Es ist ein starker Eingriff in die bürgerliche Moral.

Gleichzeitig rettet und befreit er die „Gerechten“ aus dem Zwang ihrer eigenen Selbstgerechtigkeit.

Das wichtigste, was das Evangelium hier erzählt ist und bleibt:

„Jesus sah einen Menschen…“

Damit ist ein liebevoller und gütiger Blick Gottes gemeint.

Durch alle möglichen Fassaden und Vorurteile hindurch.

Jesu Verständnis von Gerechtigkeit spaltet nicht, sondern verbindet.

Frauen, Kinder, Arme, Sünder und Sünderinnen, Kranke, Personen mit schlechtem Ruf und alle, die am Rand der Gesellschaft stehen, werden von ihm in die Mitte geholt.

Jesus stellt alle menschlichen Vorstellungen von Gerechtigkeit auf den Kopf.

Gerechtigkeit Gottes auf Erden ist bei ihm durchaus inklusiv, partizipativ, einladend und solidarisch.

Er sagt nicht die einen dürfen dabei sein und die anderen nicht.

Jesu Verständnis von Gerechtigkeit meint und sieht alle Menschen in ihrem „Menschsein“, als einmalige Personen mit Würde.

Dieser Blick ist für beide verhärteten Fronten befreiend.

Für die Starken und die Kranken.

Für die Gerechten und für die Sünder.

Für die Pharisäer und die Zöllner.

13Geht aber hin und lernt, was das heißt (Hos 6,6): »Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer.«

Der Autor des Matthäus Evangeliums zitiert da aus dem Propheten Hosea.

Gott will keine äußerliche Frömmigkeit, die sich in frommen Ritualen erschöpft.

Gott will

Mitgefühl

Empathie

Menschlichkeit

Barmherzigkeit

Übrigens das hebräische Wort, das Hosea für Barmherzigkeit verwendet, kommt ursprünglich von einem anderen Wort, das Mutterschoß bedeutet.

Da wird von der Barmherzigkeit in menschlichen Bildern geredet.

Barmherzigkeit als etwas, das mit dem Inneren zu tun hat.

Barmherzigkeit als Mitgefühl oder auch als Bauchgefühl Gottes.

Was für ein schönes Bild, liebe Gemeinde!

Dass Matthäus nicht auf seinen Beruf reduziert wird, sondern von Jesus barmherzig angeschaut wird, bringt Matthäus in Bewegung. Der barmherzige Blick macht ihn zu einem barmherzigen Menschen. Gerechtigkeit als Barmherzigkeit ist keine Kopfsache und kein Wertesystem, sondern ein Mitgefühl, ein Bauchgefühl.

Jesu Gerechtigkeit ist inklusiv.

Und das Symbol der Tischgemeinschaft mit Zöllnern und Sündern macht die Inklusion verständlich und greifbar.

Jeder und jede ist persönlich eingeladen zu seinem Tisch.

Wir alle mit unseren persönlichen Geschichten.

Mit unseren Träumen und Wünschen.

Mit unseren Stärken und Schwächen.

Mit unserem Denken und Handeln.

Mit unserer Freude und unserem Leid.

Dieses Verständnis von Gerechtigkeit ist gerade jetzt so aktuell und inspirierend.

Angesichts der Konflikte in unserer Gesellschaft.

Auch für uns in Simmering im Gestalten unseres gemeinsamen Lebens, hier vor Ort.

Die Suche nach Gerechtigkeit hat immer mit der Wertschätzung der Menschen gegenüber, denen ich in ihrer Unterschiedlichkeit in konkreten Situationen begegne, zu tun.

Das ist der Weg der Gerechtigkeit, um den wir uns bemühen.

Und unsere Kirche ist der Ort, an dem wir suchen, fragen und Gerechtigkeit in Vielfalt üben.

Dies tun wir nicht nur in unseren vier Wänden.

Das wäre zu wenig.

„Jesus sah einen Menschen…“

Wenn ich mich barmherzig und liebevoll anschauen lasse, wie der Zöllner Matthäus es tut,

dann ändert es auch meinen Blick auf ALLE meine Mitmenschen.

Nicht die einen oder die anderen, nicht die Geimpften und die Ungeimpften, sondern alle sind gemeint.

Ich gebe es zu, einfach ist es nicht und es gelingt nicht immer.

Wir sind und bleiben Suchende und Fragende.

Verantwortung leben als ständige Herausforderung.

Das Mitgefühl als Bauchgefühl.

Gerechtigkeit als Barmherzigkeit.

Gerechtigkeit suchen heißt Vielfalt leben und sie auch zulassen.

Nicht „wir“ und die anderen, sondern alle sind gemeint.

Vertrauen wir auf Liebe und Wärme in der kalten Welt.

Auf Hoffnung, die wir fast vergaßen.

Vertrauen wir auf die Spuren der Gerechtigkeit Gottes in unserem Leben.

Amen.

 

Nach Oben